14. Dezember 2023


Krisenmodus

Krisenmodus - das Wort des Jahres.
Warum gerade Krisenmodus? Weil Krisenmodus das Wort ist, das

"das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben dieses Jahres sprachlich in besonderer Weise bestimmt hat".

Sagt die Gesellschaft für deutsche Sprache.
Das mag ja sein. Aber nur weil der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz der Bundesrepublik Deutschland sich von

"Wirklichkeit umzingelt"

sieht, muss das doch nicht für den Rest von uns gelten.
Was hat er denn gedacht? Das er kontemplativ vor sich hin ministern kann? Der Job eines hochrangigen Politikers ist interrupt-gesteuert. Jeder Politiker, selbst der Außenminister der Vereinigten Staaten, ist krisengetrieben.
Die New York Times schrieb einmal über George Shultz:

"Die Stunde der Einsamkeit war die einzige Möglichkeit für ihn, Zeit zu finden, um über die strategischen Aspekte seiner Arbeit nachzudenken. Andernfalls wäre er ständig mit taktischen Fragen beschäftigt gewesen und hätte sich nie auf größere Fragen von nationalem Interesse konzentrieren können."

Für die Medien ist Krisenmodus ein Synonym für Klickmodus.
Wir als Privatmenschen müssen das nicht mitmachen.
Wenn ich zurückblicke: Mir ist schon der eine oder andere Weltuntergang versprochen worden, aber alles, was ich bekommen habe waren fünf neue Fernsehkanäle. Und die Krisen meiner Kindheit und Jugend waren - genau wie die Krisen heute - "existenzbedrohende, fünf nach zwölf, wir sind im freien Fall"-Krisen.
Jede Krise hat ihre lautstarken Propheten und Apologeten die klappend durch die Talkshows ziehen.

Das Krisen-Defilee

  • Ölkrise 1973 / 74: Schluss mit der Vollbeschäftigung. Binnen eines Jahres kletterte die Arbeitslosenquote von 1,2 % auf 4,7 %. Einen Lockdown gab’s auch. Hieß aber nicht Lockdown, sondern "autofreier Sonntag".
  • 1977: Der Deutsche Herbst: RAF-Terror in der ganzen Republik und die haben sich nicht irgendwo festgeklebt.
  • Waldsterben, Ozonloch, sauerer Regen, der den Damen im Ruhrgebiet die Nylonstrümpfe von den Beinen ätzt und Flüsse, die in Regenbogenfarben schillern. Mit der Umwelt stand es nicht zum Besten.
  • NATO-Doppelbeschluss, Pershing II-Nachrüstung, Fulda Gap - Deutschland als Aufmarschgebiet für die größte Panzerschlacht, die die Welt je gesehen hat und sollte der Iwan durchbrechen: Atombomben.
  • Die 80er-Jahren: Generell eine Dekade der Agonie, des Punks, der No-future-Generation: hohe Arbeitslosigkeit, Tschernobyl und wirklich schlechte Musik.
  • 1989: Krise oder Chance? Jedenfalls haben die Ostdeutschen ihr komplettes Lebensmodell entsorgen müssen. Das war hart.
  • In den 90er-Jahren auf einmal jede Menge Leute aus der IĆ-Fraktion in Deutschland. Wo kommen die ganzen Knežević, Marković und Jovanović auf einmal her? Vom Balkan, denn da tobten die Jugoslawienkriege. Soviel zum Thema "Ukraine, erster Krieg in Europa seit dem zweiten Weltkrieg".

Zur damaligen Zeit war das alles so dramatisch, wie heute der Klimawandel. Der Staat wird zerfallen, wir werden alle radioaktiv verdampfen, wir werden verhungern, weil die versauerten Böden nichts mehr hergeben. Und jetzt? Alles vergessen, alle unter 40 müssen doch erst einmal googlen, was es mit "Deutscher Herbst" und "Fulda Gap" auf sich hat.

Krise ist normal

Alle zehn Jahre ein Weltuntergang, das ist normal.

"Verrückt heißt nicht kaputt. Verrückt ist normal"
Morgan Housel in "Same as ever"

Unsere Welt hat fünf große Faunenschnitte mitgemacht, bei denen drei Viertel aller Arten ausstarben. Seit vier Milliarden Jahren ist nach der Krise vor der Krise. Mal ist es zu warm, dann wieder zu kalt, mal zu trocken, dann zu feucht und ab und zu verwüstet ein Meteor oder ein Rudel amoklaufender Vulkane das Land.
Unser Planet kann nur Krise. Die Krise ist der Motor der Evolution. Ohne Krise kein Fortschritt.
Je mehr Krise, desto weniger Compliance und "aus versicherungstechnischen Gründen". Ohne die Erfahrungen der Militärärzte im Ersten Weltkrieg hätten es Bluttransfusion und Radiologie wesentlich schwerer gehabt, sich zu den heutigen Standardtherapien in der modernen Medizin zu entwickeln.
Krisenmodus ist immer; nicht nur 2023.

Immer nur Krise?

Die Krise ist laut und drängelt sich in den Vordergrund. Der Fortschritt kommt auf leisen Sohlen daher. Ein kleines Beispiel: Ich bin kein Freund des SUVs. Dennoch muss ich zugeben: Wenn ein Porschepanzer manierlich vorbeirollt, hört man den kaum und es riecht auch nicht.
Röhrt dagegen der Nachbar mit seinem Youngtimer 911er vorbei ist die Luft blau, es stinkt und obwohl er angemessen fährt, macht die Karre einen Höllenlärm.
40 Jahre Fortschritt im Autobau.
Nicht nur im Automobilbau - auch in den anderen Lebensbereichen haben wir große Fortschritte gemacht. Wir wohnen komfortabler, essen besser und urlauben exotischer als vor 30 Jahren. Nur merken wir das nicht, weil es so langsam geht und weil der Fortschritt von Krisen umzingelt ist.

Fazit

Auch 2023 gilt das kölsche Grundgesetz - die Krise kann uns mal.

§ 1 Et is wie et is
§ 2 Et kütt wie et kütt
§ 3 Et hätt noch immer jotjegange

Der Plan für 2024

"Die Dosis macht das Gift"
Theophrastus Bombast von Hohenheim

Lassen Sie 20 % Krisenmodus in Ihr Leben. Das belebt, mehr lähmt. Nicht, dass Sie sich auf einmal in einer Talkshow wiederfinden und Ihr Leben bejammern.

PS

Meine aktuellen Lieblingsworte sind kommod und dufte.

(awa)

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