26. März 2023


Altersvorsorge für das Jahr 2063

Heute eine kleine Buchbesprechung. Es geht um das Buch Das Lifestyle-Vorsorge-Dilemma - Der Wegweiser für eine Altersvorsorge, die zu Dir passt! von Dr. Otto N. Bretzinger, einem erfahrenen Juristen. Erschienen im September 2022 (zum Buch).
Die Zielgruppe dieses Buches ist rund zwanzig Jahre alt, also in diesem Jahrtausend geboren. Wie lange wird sie wohl arbeiten? 30 Jahre, 40 Jahre, 50 Jahre?

Sausen wir mal ein bisschen die Zeitachse hinauf:

  • 30 Jahre: Wir schreiben das Jahr 2053 und das das nicht mehr ganz so junge Jungvolk wird 50. Ein halbes Jahrhundert.
  • 40 Jahre: 2063, letzter Arbeitstag mit 60.
  • 50 Jahre: 2073, mein Gott, zweitausendunddreiundsiebzig, die totale Science-Fiction-Zahl. Die Zielgruppe wird - bei hoffentlich guter Gesundheit - 70. Kein so biblisches Alter. Das kann man schon erreichen.

Jetzt kommt meine Generation, jetzt gehen wir in die Vergangenheit

1993 - vor 30 Jahren

Eintritt ins Berufsleben, welches immer noch größtenteils computerfrei ist. Online: Mit Modem über AOL. Politisch: Die deutsche Wiedervereinigung, das Ende der Sowjetunion und das Ende der Apartheid in Südafrika. Die ersten Discountbroker (Consors) werden im Neuland gegründet. Vollkommen unseriös. Aktien?? und dann auch noch anonym, also nicht am Bankschalter? Nein, dass muss nicht sein! Wir sind dann mal fix Kunde geworden. Und natürlich war die Rente sicher.

1983 - vor 40 Jahren

Abitur, die Grünen gründen sich, Musik nicht per Streaming, sondern über eine "körpergebundenen Kleinanlage für hochwertige Wiedergabe von Hörereignissen". Wer weiß, was da beschrieben wird, war dabei in den 80ern. Trotz Wolf of Wallstreet: Aktien hatte niemand. Die ganz Abenteuerlustigen kauften Bundesschatzbriefe und ließen sie direkt in Bad Homburg verwahren und nicht bei der Hausbank. Was diese sehr missbilligt hat.
Politisch: Das Ende der DDR zieht herauf.
Größter Aufreger: Die verdammte Anschnallpflicht. Zermatscht die Oberweite der Frauen!

1973 - vor 50 Jahren

Erste Ölkrise, der Vietnamkrieg endet, RAF-Terror, wir in der Grundschule, gespielt wurde draußen, der Familienfernseher war ein Röhrentrumm, stand im Wohnzimmer und war schwarz-weiß.
Urlaub wurde in Deutschland gemacht. Oder südlich in Österreich und Italien (Rimini, der Teutonengrill), im Westen nach Frankreich und zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark verkehrten die Butterdampfer: Zigaretten und Butter zollfrei! Nach Osten ging nicht, da war ja die Zone, auch Dunkeldeutschland genannt.
Und es wurde geraucht. Immer und überall. Wer kennt noch das HB-Männchen?
Aktien hatte niemand, unsere Geldanlage hieß Sparbuch.

Zwischenfazit Zeitachse

Die Bundesrepublik meiner Kindheit und Jungend ist längst untergegangen. Selbst der Zeitgeist meiner Jahre als junger Erwachsener hat sich längst verflüchtigt. Wir wissen zwar nicht, wie die Zukunft der Jungen aussieht, aber ich behaupte: Sie wird nicht weniger volatil sein, als meine Vergangenheit. Wer kann den heute noch etwas mit Mutlangen, Pershing II und Fulda Gap anfangen?
Das ist jetzt die BRD-Sicht. Wer in der DDR aufwuchs, hat zusätzlich noch den Untergang seines gesamten Lebensentwurfs auf der Volatilitätskarte.

Wer hätte 2000 vorhergesagt, dass in den nächsten zwei Dekaden

  • bärtige Männer in Hochhäuser fliegen werden (2001),
  • dass es eine globale Finanzkrise geben wird, die das System an seine Grenzen bringt (2008)
  • und als Bonus noch eine Pandemie (2020)

Rund und roh: Alle zehn Jahre eine wirklich üble Sache.

Ein Buch zur Altersvorsorge hat die Aufgabe, mich auf diese Reise vorzubereiten.

Diesem Anspruch wird das Buch nicht gerecht. Aber es ist trotzdem lesenswert. Wie das?

Das Lifestyle-Vorsorge-Dilemma - der Inhalt

Die ersten einhundert Seiten behandeln die absoluten Grundlagen. Kassensturz machen, Schulden tilgen, existenzbedrohende Risiken absichern, das ist unabhängig vom Lebensalter sinnvoll. Die folgenden zweihundert Seiten gehen davon aus, dass sich das Heute linear ins Übermorgen verlängern lässt.

  • 30 Seiten über die gesetzliche Rente. Sehr detailliert und mit konkreten Zahlen. Wer wissen will, wie die Rente heute funktioniert wird bestens informiert. Aber welche Relevanz hat das für jemanden, der 2063 in Rente geht?
  • 20 Seiten Beamtenversorgung, auch hier wieder exakt und detailliert. Kapitel 4.3.1.: Hinterbliebenenversorgung / Bezüge für den Sterbemonat. Bei allem Respekt, Zielgruppe sind Zwanzigjährige. Die müssen doch erst mal jemanden zum heiraten finden, bevor sie den Status als Hinterbliebene anstreben können.
  • 20 Seiten Betriebsrente. Ist Betriebsrente nicht so ein Ding der Großkonzerne, die Deutschland gerade verlassen? Betriebsrente bedeutet doch: Ich bin langfristig bei einer Firma mit Zukunft beschäftigt. Betriebsrente setzt Stabilität voraus. Ich und die Firma, die Firma und ich; und zwar möglichst lange.
  • 50 Seiten Riester- und Rüruprente. Ohne Erbarmen durchdekliniert: "Auszahlung der Rente im Alter". Mindestalter des Rentners: 62 Jahre, also so ab 2065. Bei diesen 50 Seiten wird die vollkommen schwarzer-schwan-freie Denkweise des Autors überdeutlich.
  • 25 Seiten Versicherungsprodukte: Kapitallebensversicherungen und private Rentenversicherungen. Durchaus kritisch "teure Anlageform", "mangelnde Transparenz", "niedrige Rendite" - aber warum dann 25 Seiten darauf verwenden, statt kurz und bündig davon abzuraten. Die Aufmerksamkeitsspanne der Zielgruppe ist auf 60-Sekunden-Tiktok-Clips geeicht.
  • 30 Seiten Wertpapiere. Klingt erst mal nicht schlecht, aber Aktien werden auf zwei Seiten abgehandelt. Kernaussage: Vernünftige Risikostreuung erst ab 20.000 Euro möglich (welcher Youngster hat 20.000 Euro?). Das Ganze kombiniert mit einem statischen Risikoverständnis (Schwankungen sind schlecht). Beim Thema Genussscheine und Derivate merkt man, dass den Autor seine Kompetenz verlässt. Es wäre besser gewesen, der Lektor hätte diese drei Seiten gestrichen. Investmentfonds werden in allen Varianten vom Geldmarkt- bis zum Immobilienfonds abgehandelt und auch ETFs werden angesprochen. Ist auch alles richtig, was dort geschrieben steht. Aber letztlich sind Aktien für den Autor ein "Zusatzbaustein" und nicht der zentrale Wertschöpfungsmotor.
  • Auf den letzten 30 Seiten wird der Rest abgehandelt: Tages- & Festgeld, Immobilien, staatliche Sparförderung.

Fazit

Dieses Buch ist ein hervorragendes Buch, wenn es darum geht zu beschreiben, was ist. Aber es versagt, wenn es darum geht zu beschreiben was sein wird. Nicht ideal für eine Zielgruppe, deren Leben zum größten Teil aus Zukunft besteht.

Es gibt zwei philosophische Sichten der Welt

  1. Die Welt ist klar strukturiert. Vieles ist bekannt. Risiken sind über die Zeit stabil und deshalb in großen Teilen vorhersagbar und berechenbar. Das Risiko bewegt sich innerhalb gewisser - mathematisch beschreibbarer - Verteilungen. Natürlich ist auch hier keine exakte Vorhersage möglich.
  2. Die Welt wird ab und zu heimgesucht von nicht erkennbaren und in ihrer Größe nicht bestimmbaren Risiken. Man kann Risiken bestimmen, weiß aber nie, wie präzise die Vorhersage ist.

Dieses Buch vertritt die erste Sichtweise. Die Ziege und ich halte die zweite Sichtweise für für zukunftsfähiger.
Wo wir gerade bei Tipps und Ratschlägen sind: Sehen Sie Aussagen immer im Kontext des Lebenslaufs des Tippgebers. Was hat diese Person geprägt? Bei dieser Rezension prallen schlicht zwei verschiedene Lebensläufe aufeinander.
Herr Dr. Bretzinger ist Jurist und Journalist. Er bearbeitet für die öffentlich-rechtlichen Sender die Themen Recht und Verbraucherschutz. Solides Establishment - ich dagegen war schon immer eher dem abseitig unkonventionellen Irrsinn und einer nicht immer jugendfreien Sprache zugetan.
Herr Dr. Bretzinger erklärt in seinem Buch, wie man die Dinge richtig tut. Ich dagegen möchte, dass Sie die richtigen Dinge tun.

Warum ist das Buch aber trotzdem lesenswert?

Die normale Kurzschlussreaktion: Mir gefällt dieses Buch nicht, les’ ich nicht, weg damit.
Ich bin wie folgt vorgegangen

  1. Dieses Buch ist gründlich recherchiert, vernünftig und wurde reinen Herzens - mit dem Willen zu helfen - geschrieben. Im ganzen Land versuchen viele Eltern ihren Kindern diese Sichtweise zu vermitteln.
  2. Was, wenn sie Erfolg haben und eine hinreichend große Zahl von jungen Menschen weiter in die Rentenkassen einzahlt und privat mit Riester/Rürup oder ähnlichen sicheren Garantieprodukten vorsorgt? Wie wirkt sich das auf mich aus?
  3. Die Rente ist umlagefinanziert, jede Einzahlung wird sofort wirksam und ist gut für meine Rente. Der private Kram wird in 30 oder 40 Jahren fällig. Wenn dann herauskommt, dass das nicht so toll ist mit der Rendite, bin ich tot. 30 Jahre habe ich vielleicht noch, 40 eher nicht, 50 ganz sicher nicht.
  4. Risikofazit für mich: Ungefährlich, macht mal.

Und noch ein Tipp: Lernen Sie das Denken in höheren Ordnungen. Das Leben ist eine aus Quer-, Seiten- und Nebeneffekten gewebte Rückkopplungsschleife und kein monokausaler (wenn X, dann Y) Strang.

Nicht arm sterben

Zwei Dinge reichen für den Anfang

  1. Ein Depot mit einem ETF auf den MSCI ACWI
  2. Begehrt sein

Das Depot

Nur als Infrastruktur und um sich an die Schwankungen zu gewöhnen. Start mit 50 Euro, damit der Broker das Depot nicht wieder zumacht. Wenn die Verwandtschaft mal was spendet wird - eventuell - nachgekauft.
Ein Berufsanfänger hat andere Sorgen, als Broker zu recherchieren und ein Depot zu eröffnen. Infrastruktur bedeutet: Alles ist schon da; der Sparplan kann ab dem ersten Gehalt starten. Studenten haben eh kaum Geld und vom Lehrlingsgehalt noch was zurücklegen - muss das sein?
In jungen Jahren ist "Geld gegen Erfahrungen" der bessere Deal. Und in diesem Alter bedeuten Erfahrungen auch und gerade "haarsträubender Irrsinn, von dem die Eltern besser nichts wissen". Die Mehrheit wird schneller vernünftig, als einem lieb ist. Es ist nur eine kleine Minderheit, die mit ihren Sonderinteressen die öffentlich-rechtlichen Freakshows bevölkert und in den sozialen Medien für Aufregung sorgt.

Begehrt sein

Wie wird man begehrt? Indem man über nützliche Fähigkeiten verfügt und sich nicht aufführt wie ein Arschloch. Was sind nützliche Fähigkeiten? Das liegt im Auge des Betrachters. Es sind berufliche und soziale Fähigkeiten, die von anderen Menschen so geschätzt werden, dass sie

  1. entweder bereit sind dafür Geld auszugeben oder
  2. sogar eine Heirat in Betracht ziehen. Eine funktionierende Familie ist eine noch bessere Altersvorsorge als ein Aktiendepot.

Die Ökonomen nennen’s Humankapital.

In meinen Augen taugt nur Humankapital als Altersvorsorge. Entweder in der direkten Variante: Sie und Ihre Fähigkeiten, oder die indirekte Variante: Der MSCI ACWI vereint das Humankapital von 40 Millionen Menschen. Alles andere leitet sich davon ab.

(awa)

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